Achterbahn und “ein bisschen Zauberei”: Als Becker Wimbledon-Geschichte schrieb

Vor exakt 40 Jahren schrieb am 7. Juli in Wimbledon ein rothaariger 17-Jähriger aus Leimen Tennisgeschichte. Seit diesem unvergesslichen Sieg ist Boris Becker (57) Stammgast auf Titelseiten.

Vielleicht war es ja ein Vorgeschmack auf alles, was noch kommen würde in Boris Beckers Leben – auf den Courts und daneben. Jenes verrückte Wimbledon 1985, bei dem es reichlich Spannung, Drama, Nervenkitzel, Kuriositäten gab, wahre Achterbahnfahrten auf dem Grand-Slam-Grün, Verletzungsprobleme, unmöglich scheinende Entfesselungsakte. Und schließlich ihn als mit 17 Jahren jüngsten Champion, Boris Franz Becker aus dem Städtchen Leimen nahe Heidelberg. Der Teenager, über den eine Zeitung damals schrieb: “Er war zu jung, um zu wissen, dass er zu jung war, um Wimbledon zu gewinnen.”

40 Jahre ist das alles jetzt her, einer der unbestrittenen historischen Leuchtturmmomente des deutschen Sports. Was fällt einem noch ein? Natürlich der emotional tiefgehende WM-Sieg der deutschen Fußballer 1954, neun Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Max Schmelings Ringschlachten. Jan Ullrich als erster deutscher Tour-de-France-Sieger, Mann in Gelb noch auf den Champs-Elysees in Paris. Michael Schumachers Formel-1- Dominanz. Ulrike Meyfarths Olympiasieg 1972 und noch einmal ein Dutzend Jahre später in Los Angeles 1984. Auch Albatros Michael Groß im Schwimmbecken.

Höhepunkte, die eines gemeinsam haben: Man weiß noch ziemlich genau, wie, wo und mit wem man sie erlebt hat. Beckers Hoppla-jetzt-komm-ich-Wahnsinnslauf verfolgte Deutschland anno 1985 noch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Es war eine Zeit ohne Privat- oder Pay-TV, entsprechend hoch waren die Einschaltquoten. Noch nicht unbedingt bei den Auftaktspielen des 17-jährigen Draufgängers, aber bei Beckers Finalsieg saßen angeblich zwölf bis fünfzehn Millionen vorm TV-Schirm. Wer von Anfang an dabei war, hatte bereits allerlei Aufregendes miterlebt. “Ich war ein paarmal schon mit einem Bein draußen aus dem Turnier”, erinnert sich Becker, “dass ich überhaupt im Endspiel stand, war für mich ein bisschen wie Zauberei.”

Dass ich überhaupt im Endspiel stand, war für mich ein bisschen wie Zauberei.

Boris Becker

Unmögliches wird sofort erledigt, Wunder dauern etwas länger. Oft war das in Beckers Laufbahn ein naheliegendes Motiv, und auch bei den Offenen Englischen Meisterschaften 1985 scheint der junge Deutsche manchmal rettungslos verloren, ehe er atemberaubende Comebacks startet. So beispielsweise in der 3. Runde gegen den Schweden Joakim Nyström, in einem Match, das am ersten Turnier-Samstag bei 1:1-Satzgleichstand wegen Regens abgebrochen werden muss und dann am Montag eine fesselnde Fortsetzung findet.

Im fünften Satz muss Becker drei Matchbälle abwehren, er tut es mit wahnwitzigen, aber erfolgreichen Returns. Draußen wird Beckers Manager Ion Tiriac beinahe verrückt: “Wie kann er so spielen? Das ist irre!”, brüllt er Coach Günther Bosch zu. Aber Becker breakt zweimal, als Nyström zum Sieg aufschlägt im Entscheidungsdurchgang. Und gewinnt am Ende mit 9:7.

Schon einen Tag später geht es weiter mit den unfreiwilligen Thriller-Nummern mit Becker. Gegen den Amerikaner Tim Mayotte knickt Becker im vierten Satz um, er liegt zu diesem Zeitpunkt mit 1:2 Sätzen hinten. “Mein Knöchel schmerzt. Ich gehe aufs Netz zu, will die Hand in Richtung von Tim ausstrecken”, erinnert sich Becker später. Aber da hat er die Rechnung ohne Bosch und Tiriac gemacht. “Nimm eine Auszeit. Lass dich behandeln”, ruft Bosch seinem Schützling wütend zu.

Becker wird getapt – und wirkt danach wie ausgewechselt

Becker marschiert dann tatsächlich zum Pausenstuhl, der Arzt, der ihn behandeln soll, schafft es im riesigen Gedränge allerdings nicht rechtzeitig zum Court. “Time” ruft der Schiedsrichter nach drei Minuten, ohne dass etwas für den Angeschlagenen passiert wäre. Da schreitet Tiriac ein – und auf den Platz, fordert energisch die Behandlung. Becker wird getapt, wirkt danach wie ausgewechselt, spielt besser als je zuvor in dem Match. Er gewinnt Satz 4 im Tiebreak, den fünften Akt souverän 6:2. Er steht im Viertelfinale. Besiegt dort Spaßmacher Henri Leconte aus Frankreich.

Dann der nächste Akt im großen Tennistheater, das Halbfinale gegen den Weltranglisten-Fünften Anders Järryd. Eines jener Matches in Wimbledon, das ihm viel später den Titel “Master of Rain Breaks” einbringen wird. Nach zwei Sätzen am Freitag ist Schluss auf dem Centre Court, ein heftiges Gewitter tut das Übrige, um den Spielbetrieb zu stoppen. 1:1 steht es nach Sätzen, am nächsten Tag aber ist Becker wieder mal in den Überstunden hellwach, siegt schnell 6:3 und 6:3. “Ohne die Wetterkapriolen hätte mich Järryd heimgeschickt”, sagt Becker, “das war irgendwie Schicksal …”

Endspiel am 7. Juli. Und schon beim Marsch auf den Platz ist etwas Symbolhaftes zu erkennen. Becker drängelt und überholt Curren beim Centre-Court-Gang, er sagt später: “Ich wollte Entschlossenheit zeigen, vor ihm den Platz betreten.” Curren habe wissen sollen, so Becker: “Ich bin nicht hier, um ein gutes Spiel zu machen. Ich bin hier, um zu gewinnen.” Becker stört sich auch nicht an den Meriten, die Curren auf dem Weg ins Endspiel gesammelt hat, nacheinander hatte der Stefan Edberg, John McEnroe und Jimmy Connors aus dem Weg geräumt.

Becker fliegt, hechtet, rackert, flucht, schimpft

Beckers Tennis an diesem Tag ist in vielerlei Hinsicht ein Kulturbruch mit dem alten, vornehmen, elitären, konservativen Wimbledon. Der Deutsche fliegt, hechtet, rackert, flucht, schimpft. Sein Shirt ist nach ungezählten Stürzen alles andere als blütenweiß rein, sondern verdreckt wie nach einem Einsatz am Bau. “Dummkopf”, ruft der 17-Jährige nach einem verschlagenen Volley. Oder auch “Idiot”. Das staunende Publikum erlebt auch die Becker-Faust oder den Becker-Shuffle nach gewonnenen Punkten. Das allerletzte Spiel damals, es ist noch einmal Becker pur. Ein Drahtseilakt, der um 17.23 Uhr Ortszeit mit einem Doppelfehler beginnt. Dann holt sich Becker die nächsten drei Punkte, Matchbälle. Aber wieder schlägt er einen Doppelfehler, nur noch 40:30. “Da habe ich dann gebetet: Gott, gib mir einen ersten Aufschlag!”, sagt Becker. Und so geschieht es auch, er serviert einen Aufschlag, den Curren nicht returnieren kann.

Es ist auch der letzte Aufschlag in seinem alten Leben. Über das, was nun kommen wird für Becker, sagt am ZDF-Mikrofon Reporter Rainer Deike lapidar: “Sein Leben wird sich nun mit Sicherheit ändern.” Aber es änderte sich auch das Verhältnis der Nation, die Bum Bum Boris in Beschlag nahm, jeden seiner Schritte und Tritte aufmerksam überwachte, sich an Aufstieg und Fall des Helden ergötzte und ihn lange Zeit als nationales Eigentum betrachtete. Millionen begleiteten Beckers Auf-und-Ab-Kapriolen, der sechsmalige Grand-Slam-Gewinner ließ die Deutschen nie los, obwohl er sich selbst lossagte von seinem Heimatland und Jahrzehnte im Ausland lebte.

Nach der Karriere geht es ereignisreich weiter

In den Augen der Deutschen, sagte Becker einmal, sei er niemals ein anderer geworden als der berühmt-berüchtigte 17-jährige Leimener: “Man hat mir in gewisser Weise übel genommen, dass ich erwachsen wurde. Und nicht mehr das unschuldige Bobbele war.” Allerdings hätte sich auch Becker niemals, nicht in seinen dunkelsten oder auch kühnsten Träumen, ausmalen können, was speziell erst nach seinem letzten Karriere-Aufschlag auf einem Centre Court, in Wimbledon 1999, alles passieren würde. Private Verwerfungen, gescheiterte Ehen, plötzliche Vaterschaften. Ein Gerichtsverfahren in Deutschland wegen Steuerhinterziehung, Pleiten und Pannen als Jung-Unternehmer.

Starke Auftritte als internationaler TV-Kommentator und Experte, Top-Performance als Coach des Weltranglisten-Ersten Novak Djokovic oder als Herrentennis-Boss beim Deutschen Tennis-Bund. Geldnot, Insolvenzverfahren, bitterer zweiter Gerichtsprozess in London. Gefängnisstrafe für neun Monate, dann vorzeitige Ausweisung von der Insel. Und inzwischen, nach all diesen verwegenen Höhen und Tiefen, ein neuer, scheinbar geläuterter Mann, der festen Boden unter den Füßen hat. Und der von sich ein weiteres Mal sagt: “Ich habe alles überlebt. Ich habe immer wieder die Kraft gehabt, Schlimmes hinter mir zu lassen.”

“Bei mir weiß man nie, was kommt”

Obwohl sich Becker kurz nach seinem Tennis-Ruhestand geschworen hatte, “alles gelassener, entspannter und relaxter anzugehen”, glich sein Leben als Pensionär eher den Turbulenzen, die er zuverlässig als Tennis-Globetrotter produziert hatte. Eigentlich war beim privaten Becker alles wie eins seiner verrückten, aberwitzigen, unvorhersehbaren Matches – mit Führungen, Vorteilen und plötzlichen Rückständen, Comebacks, neuen Tiefschlägen und einer weiteren Houdini-Nummer. “Bei mir weiß man nie, was kommt”, hatte Becker als Profi achselzuckend gesagt, wenn er seine denkoder auch merkwürdigen Auftritte und zuweilen unerklärlichen Ergebnisse bewertete.

Und an diesem Befund in eigener Sache änderte sich tatsächlich nichts in all den Jahren, die dem Herumjetten auf der Tennistour folgten. Becker war zu seinen aktiven Zeiten ein erstaunlich einsamer Akteur. Im Grunde vertraute dieser bis heute jüngste Wimbledonsieger aller Zeiten am liebsten nur sich selbst. Diese Haltung verlieh ihm oft eine faszinierende Unabhängigkeit, aber sie war nicht nur Segen, sondern auch Fluch. Becker, der notorische Einzelkämpfer, hat einmal gesagt, er sei nach dem ersten Wimbledon-Triumph “in ein anderes Universum” geschleudert worden: “Ich wollte natürlich immer ein großer Sieger sein, aber was es bedeutet, Wimbledonsieger zu sein, wusste ich nicht.”

Er wurde dann auch und vor allem: eine Ich-AG, ein Egomane und Egozentriker, der lapidar von sich behauptete, “kaum wirkliche Freunde zu haben”. Einer, über den der erste Übungsleiter Bosch sagte, er habe von seinem 18.Geburtstag, also am Tag seiner Volljährigkeit, wie ein einsam abgehobener Präsident stets bestimmen wollen, “wo es langgeht”. Becker, der eigene und einzige CEO auf seinem eigenen Planeten. Und Becker lebte tatsächlich, wie er es für richtig hielt, wie es ihm selbst gefiel: Es war alles in allem ein Leben, das geprägt war davon, dass er, Boris der Große, dauernd und nur zu gern gegen den Strom schwamm. Gegen die Erwartungen.

Seite-1-Abonnement

Nicht zuletzt auch gegen die deutsche Wunschvorstellung, wie er als Idol sein sollte. “Ich war nie euer Boris. Und ich bin nicht euer Boris”, schrie er praktisch noch einmal heraus, als er 2017 auf ein halbes Hundert Lebensjahre zurückblickte. Es wurde lange Zeit nie wirklich ruhig um ihn, als er aufhörte, im Tourzirkus herumzureisen. Als Lieferant familiärer wie sonstiger Aufreger hatte er immer noch das Seite-1-Abonnement, die Garantie der dicken Schlagzeilen am Zeitungsboulevard. Er konnte auch kein Leben leben, wie es Mitstreiterin Steffi Graf in Las Vegas als Gattin von Andre Agassi lebte: abseits der Schlagzeilen, als Spielerfrau, als Hausfrau, als diskrete Stiftungschefin der “Graf Foundation”.

Beckers Leben spielte sich unter regelmäßiger öffentlicher Beobachtung ab, er konnte und wollte dem nicht entkommen. Zum Jubiläum seines Wimbledon-Sieges vor 40 Jahren plaudert Becker auf vielen Kanälen über das Gestern und Heute, er sagt von sich, er sei in gewisser Weise wieder wie der junge Bursche von damals, der den Wimbledon-Titel jagte, “hungrig, entschlossen, nicht verwöhnt, nicht so nachlässig, entschlackt”. In der Sports Illustrated erklärte Becker, der bald zum fünften Mal Vater wird, mit leichtem Pathos unlängst sogar: “Ich bin ein Break vorn. Vorteil Becker. Ich habe wieder ganz gut ins Spiel gefunden.”

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